Grenzenlose Freiheit im Saal Baltic

Rolling Stone Weekender am Weißenhäuser Strand

Rolling Stone WeekenderVon außen versprüht die Ferienanlage Weißenhäuser Strand den Charme einer Plattenbausiedlung. Die Restaurants in dem Ferienzentrum an der Hohwachter Bucht heißen “Witthüs”, “Deichgraf” und “Fischkiste”, das Ambiente mit seinen falschen griechischen Säulen und den ebenso gefaketen Geranienbalkonen sind Ausdruck von Spießigkeit und stilistischem Frevel gleichermaßen.  Doch wenn eine erstklassige Band auf der Bühne steht, ist es egal, wie sehr das verschnörkelte Teppichmuster im Saal Baltic die Augen beleidigt. Der Ort des ersten Rolling Stone Weekenders ist  zwar nicht so cool wie das Hamburger Molotow oder die New Yorker Mercury Lounge, aber das Programm der zwei Tage hat es in sich.

Zielgruppe des Weekenders sind Familien mit Kindern und Männer der Altersklasse Ü40, die mit ihren Kumpels mal wieder ein richtiges Rock ‘n’Roll-Wochenende erleben wollen. Mit viel Bier und viel Gitarrenmusik also, aber ohne Zeltübernachtung und Dixi-Klos. Doch wer  geglaubt hätte, das Programm würde vor allem eine Reihe von mehr oder weniger abgehalfterten Retro-Rockbands präsentieren, sieht sich angenehm überrascht. Als Zugpferde stehen Namen auf dem Programm, die auch beim jungen Rockpublikum großen Respekt genießen wie die Editors, die Flaming Lips und Wilco. Und es gibt bei diesem Alt-Männer-Festival sogar einiges zu entdecken, was vom musikalischen Mainstream Lichtjahre  entfernt liegt wie die US-Combos Akron/Family oder Cymbals Eat Guitars.

Hinter Akron/Family, im New Yorker Stadtteil Brooklyn zu Hause, verbergen sich drei junge bärtige Krachmacher, die aussehen, als seien sie mit einer Zeitmaschine aus dem Jahr 1969 in die Gegenwart gereist. Gitarrist Seth Olinsky wirkt mit seinen langen Haaren und dem Stirnband wie ein Hippie auf dem Weg nach Woodstock. Doch Akron/Family sind eben keine Nostalgiker, die dem  “Make Love Not War”-Credo nachhängen, sondern drei geradezu analytische Musiker, deren Reise in der Jetzt-Zeit beginnt und die   sich zurücksehnen in die Aufbruchsstimmung der späten Sechziger Jahre. Damals war Rockmusik noch nicht durchformatiert, Bands besaßen damals  eine fast grenzenlose Freiheit in ihren musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten, und das Publikum folgte ihnen mit offenen Ohren. Akron/Family nehmen sich wieder diese Freiheit und spielen Stücke von annähernd 30 Minuten Länge. Rockimprovisationen gehen über in eine Art indianischen Gesang, auf die Trance folgen Rückkoppelungen, elektronische Geräusche und ein Rap von Schlagzeuger Dana Janssen, bis dieses gewaltige Klanggebirge mit ein paar  Schellentönen zart verklingt. Akron/Family sind mit ihrem experimentellen Rock ein aktueller Gegenentwurf zu all den durchgestylten Rockbands. Ihre Musik ist politisch, weil sie  diese engen Genre-Bandagen zugunsten einer  stilistischen Freiheit löst, in der alles möglich und erlaubt ist.

Eine andere Art von politischer Rockkultur erleben die 2500 Zuschauer mit Billy Bragg im großen  Vier-Mast-Zelt. Der britische Sänger ist, seit er seine Karriere in den späten 70er-Jahren begann, ein Troubadour der Arbeiterklasse. Er prangert die englische Monarchie genauso an wie er die Banken und den Kapitalismus als Alleinschuldige für die Weltwirtschaftskrise ausgemacht hat. Doch Bragg ist kein politischer Eiferer, er verpackt seine Botschaften in schlichte Folksongs und witzige Moderationen, die oftmals doppelt so lang sind wie seine Songs. Dabei kommt er zuweilen vom Hundertsten ins Tausendste wie bei der Ankündigung eines Woody-Guthrie-Liedes: Dessen Hommage an die Schauspielerin Ingrid Bergman wird bei Bragg zu einer verbalen Kette, die   von   Roberto Rossellinis nach einer Vulkaninsel  “Stromboli” genannten Film über Isabella Rossellini und David Lynch zurück zu Woody Guthries  Geschlechtsteil führt, das sich so hart anfühlt wie Vulkanstein.

Als Wilco den Rolling Stone Weekender am späten Sonnabend beschließen, kehrt Bragg noch einmal auf die Bühne zurück, denn zusammen mit Wilco-Frontmann Jeff Tweedy hat  er Songs aus dem Nachlass des berühmten US-Folksängers  Woody Guthrie vertont. Bragg gehört sozusagen zur erweiterten Wilco-Familie. Das Kollektiv aus Chicago spielt ein frenetisch gefeiertes Konzert. Mit teilweise drei Gitarren erzeugen Tweedy und seine Kumpane einen  Klangwall, so wuchtig wie eine alles mitreißende Monsterwelle. Neben dem Kanadier Neil Young ist Tweedy inzwischen der bedeutendste Rockmusiker Nordamerikas.

Von den insgesamt 23 Solisten und Bands, die an diesem Wochenende an der Ostsee auftraten, muss außer den soliden Editors und der bunten Konfetti-Show der Flaming Lips (Foto: Stefan Malzkorn) der US-Sänger Brendan Benson besonders positiv erwähnt werden. Eigentlich hatte der Sänger von Jack Whites Nebenprojekt Raconteurs damit gerechnet, auch auf der großen Zeltbühne aufzutreten. Stattdessen findet er sich im etwa 200 Zuhörer fassenden “Witthüs” wieder. Vielleicht bekommt ihm die clubähnliche Enge gut, denn Benson liefert ein paar ruppige Versionen seiner Songs aus dem im Sommer erschienenen Album “My Old, Familiar Friend” ab. Auf Platte klingen diese Songs wie reiner Gitarren-Pop, live kommen die Nummern um einige Grade härter rüber. Auch Benson gehört zu den angenehmen Überraschungen des Wochenendes.

Überhaupt sieht man am Sonntagmorgen nur zufriedene Gesichter. Die Wege zwischen den insgesamt vier Bühnen waren kurz, das Programm von hoher Qualität, die Organisation reibungslos, die Atmosphäre entspannt. Das eingangs beschriebene Ambiente des Ferienzentrums spielte keine Rolle. Könnte sein, dass  der Rolling Stone Weekender bald ein festen Platz im internationalen Festivalkalender einnimmt. Im kommenden November geht er in die nächste Runde.

Photos: ©Stefan Malzkorn/Hamburg

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