Die Geier des Rock

CD-Kritik: Them Crooked Vultures, Dave Grohls Supergroup

Der entscheidende Hinweis liegt im Kleingedruckten: “Them Crooked Vultures is Dave Grohl, Joshua Homme, John Paul Jones” steht links oben als Aufkleber auf dem CD-Cover von Them Crooked Vultures. Eine neue Supergroup ist geboren wie es sie vor 40 Jahren zum ersten Mal gab, als Eric Clapton, Ginger Baker, Steve Winwood und Ric Grech sich zu Blind Faith zusammentaten. John Paul Jones war damals  schon im Geschäft – als Bassist von Led Zeppelin, die in den 70er Jahren zur größten und einflussreichsten Hardrock-Band der Popgeschichte aufsteigen sollte. Josh Homme (Jahrgang 1973) war da noch gar nicht geboren, Dave Grohl gerade ein paar Monate alt. Es war Dave Grohls Idee den legendären Bassisten zu fragen, ob er nicht mit ihm und Homme zusammen ein Projekt starten wollte. Homme war ehrfurchtsvoll skeptisch (”Da kannst Du auch den Präsidenten fragen…”), doch John Paul Jones wollte. Zeit hatte er auch genug, nachdem es nun definitiv keine Reunion von Led Zeppelin geben wird. Warum also nicht mit zwei jungen Krachmachern auf die Bühne und ins Studio gehen?

Die natürlich ausverkaufte US-Tournee im Frühherbst wurde von euphorischen Reaktionen von Publikum und Kritik begleitet, jetzt gibt es auch ein Album des Trios, das den Geier zum Wappentier erhoben hat. Aber keine Angst, Jones, Homme und Grohl sind keine Leichenfledderer des Genres. Neuerer natürlich auch nicht, aber das hat sicher auch niemand erwartet. Them Crooked Vultures spielen bluesgetränkten Hardrock wie ihn in den 60ern Cream und in den 70ern Led Zeppelin  gespielt haben, das Trio agiert mit der Wildheit des Punk, die Verstärker sind weit aufgerissen, am Schlagzeug knüppelt Dave Grohl wie ein Berserker, so wie er es schon zu Nirvana-Zeiten getan hat. Mainstream-Rock wie Grohl ihn als Sänger und Gitarrist mit seinen Foo Fighters pflegt, gibt es bei Them Crooked Vultures nicht. “Perverted blues” nennt Josh Homme den Stil der drei Rock-Geier.

Anfang des Jahres jammten Grohl, Homme und Jones zusammen in einem Studio in Los Angeles, die Begenung des 63 Jahre alten Engländers mit den 23 bzw. 27 jüngeren Amerikanern klappte. “So eine Jam Session ist wie ein Blind Date”, erzählte Dave Grohl gerade dem britischen Magazin MOJO, “du kreuzt deine Finger und hoffst, dass es nicht peinlich wird. Mit der falschen Person zu jammen, kann genauso peinlich sein wie mit jemanden zu bumsen, den du eigentlich nicht magst.” Ein halbes Jahr hielt das Trio seine Pläne unter strengem Verschluss, weil sich sonst Journalisten und Konzertveranstalter im Sturzflug auf die drei Musikergrößen gestürzt hätten.   Als Them Croked Vultures am 10. August im Metro von Chicago ihr erstes Konzert gaben, war das Album bereits im Kasten und die Band perfekt aufeinander abgestimmt. Was zwischen Homme und Grohl auch nicht besonders schwierig war, denn im Jahr 2002 hatte Dave Grohl in seiner sten Foo-Fighters-Auszeit während einer Tournee auf dem Schlagzeugschemel bei Hommes Band Queens Of The Stone Age gesessen.

Seine diesjährige Auszeit von seiner megaerfolgreichen Band – eigentlich gedacht, um sich intensiv seinem im April  neugeborenen Sohn Harper,  Tochter Voilet Maye (3) und Gattin Jordyn Blum zu widmen – nutzte Dave Grohl glücklicherweise für ein Projekt, das eine der stärksten Rockplatten des Jahres hervorgebracht hat. Das Album  beginnt mit dem Hammersong “No One Loves Me & Neither Do I” und endet 66 Minuten später mit “Spinning In Daffodils”. Eine Verschnaufpause gibt es nicht. Nachdem Them Crooked Vultures drei Clubkonzerte in Deutschland gegeben haben, wäre es schön sie im kommenden Jahr bei den großen Festivals zu erleben. Dann sind wir auch nicht ganz so traurig, dass wir den Gedanken an ein Led-Zeppelin-Konzert endgültig begraben dürfen, aber der Mythos von John Paul Jones’ ehemaliger Band erhalten bleibt.

Them Crooked Vultures (SonyBMG)

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Die Zeichen stehen auf Sturm

Port O’Brien und First Aid Kit im Molotow, Hamburg

In Alaska ist die Fischsaison vorbei. Zu rau ist das Meer, zu kalt das Wetter. Winter bedeutete für Van Pierszalowski Zeit für Musik. Denn im Sommer verdiente der junge Mann sein Geld auf dem Kutter seines Vaters mit Lachsfang. Inzwischen ist für Pierszalowski das ganze Jahr Musiksaison, nachdem er 2005 zusammen mit der Sängerin und Gitarristin Cambria Goodwin die Band Port O’Brien gegründet hat. Doch Alaska begleitet ihn weiter auf der Bühne in Songs wie  “Fisherman’s Son” oder “Stuck On A Boat”.

Pierszalowski hat manchen tosenden Sturm abgewettert, manche Regenflut an Bord über sich ergießen lassen. Die Rauheit des Nordpazifiks mit ihren wildgewordenen Elementen spiegelt sich in der Musik von Port O’Brien wieder, wenn die Gitarren und das Schlagzeug einen elektrischen Sturm entfachen. Das Quintett aus Kalifornien mit den Gastmusikern Tyson Vogel (Schlagzeug, Two Gallants) und Graham LeBron (Gitarre, Rogue Wave) referiert natürlich nicht nur Pierszalowskis persönliche Erfahrungen, sondern auch die Geschichte von lauter und zerstörerischer Rockmusik. Die Grunge-Szene von  Seattle vor 15 Jahren ist ein wesentlicher Bezugspunkt – und manchmal erinnert Port O’Briens Bandleader mit seinen blonden Haaren und dem verwuschelten Seitenscheitel an Kurt Cobain.

Seit Ende September läuft die aktuelle Tournee von Port O’Brien, auf der sie eine Menge neuer Songs ihres zweiten Albums “Threadbare” live präsentieren. Beim Auftritt im Hamburger Molotow ist die erkrankte  Cambria Goodwin  leider nicht dabei, vielleicht ist das Konzert ihrer vier männlichen Kollegen deshalb noch wilder und lauter als normalerweise. “Vielleicht ein wenig”, räumt Van nach der Show ein, “entscheidender ist jedoch, dass wir nicht versuchen, all die Feinheiten von Threadbare live umzusetzen, sondern sehr viel lauter und elektrischer mit den Songs umgehen.”

Das heterogene Publikum feiert die vier Kalifornier für ihren energetischen Auftritt und ist mit Enthusiasmus dabei, als Van Pierszalowski sie auffordert, bei “I Woke Up Today” so laut mitzuschreien, wie es nur geht. Früh ergraute männliche Fans schreien sich bei diesem Molotow-Chor genauso die Kehle aus dem Hals wie die zwanzig Jahre jüngeren Teenie-Mädchen vor der Bühne.

Dass dieser Abend im Molotow zu den besten des Konzertjahres 2009 zählen wird, ist auch zwei jungen Schwedinnen zu verdanken, die vor Port O’Brien  auf der Bühnen in Hamburgs bestem Club standen. Klara und Johanna Söderberg sind Schwestern, stammen aus einem Vorort von Stockholm, nennen sich First Aid Kit und machen moderne Folkmusik. Beide sind exzellente Sängerinnen, was sie im Molotow bei ihrem letzten Song, einem Fleet-Foxes-Cover,  eindrucksvoll beweisen, als sie von der Bühne ins Publikum gehen und dort eines ihrer Lieder  a capella singen. Die Söderbergs haben erstklassige eigene Songs, aber sie forschen auch in der Geschichte der Folkmusik. Buffy Saint-Maries hochaktueller Klassiker “Universal Soldier” geht in ihrer langsamen Version unter die Haut. Wer bei so einem Protestsong jetzt sauertöpfische Weltverbesserinnen vermutet, wird angenehm überrascht. Diese beiden Sängerinnen sind schlagfertig, witzig und äußerst charmant. Bisher haben sie erst eine EP mit dem Titel “Drunken Trees” veröffentlicht, im Januar folgt das Debütalbum  “The Big Black And The Blue”.  Nach diesem wundervollen Konzert darf man sich auf diese Platte von First Aid Kit schon mal freuen.

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Zwischen Falsett und Bariton

Die Wild Beasts spielten im Uebel & Gefährlich

wild-beasts-resized-mainSie kommen ebenso aus Leeds wie die Kaiser Chiefs, doch die Wild Beasts klingen eher wie eine dieser coolen neuen Bands aus dem New Yorker Viertel Williamsburg. Mit Tempo  rausgehauene Gassenhauer im 4/4-Takt sind ihre Sache nicht, die Wild Beasts arbeiten mit Polyrhythmik zu der jeder der vier Musiker seinen individuellen Beat beiträgt. Auch die Falsett-Stimme von Hayden Thorpe ist nicht gerade das geeigenete Organ, um betrunkene Fans zum Mitgrölen zu animieren. Die Wild Beasts gehören eher in die Abteilung Art-Rock, ohne dass sie ihre Songs jedoch überladen würden.

Ihr Konzert im leider nur mäßig gefüllten Hamburger Uebel & Gefährlich zeigte, warum die immer etwas marktschreierische englische Presse sie als die beste Indie-Band der vergangenen zehn Jahre bezeichnet: Die Wild Beasts sind variantenreiche Rhythmiker, erstklassige Songschreiber und haben mit Thorpe und Tom Fleming zwei ausdrucksstarke Sänger. wobei Flemings  Bariton einen schönen Kontrast zur hohen Stimme seines Freundes und Kollegen bildet. Obwohl nur etwa 200 Zuhörer vor der Bühne stehen, legen die die vier Freunde aus der nordenglischen Industriestadt mächtig ins Zeug. Sie nehmen ihre Musik sehr ernst; deshalb haben sie auch zwei Jahre im Übungsraum verbracht, bevor sie ihre ersten Auftritte in lokalen Pubs hatten. “Das schlimmste wäre gewesen, sich dort zu blamieren”, sagt Hayden Thorpe. Doch obwohl sie veritable Musiker sind, hat es für hohe Chart-Plazierungen noch nicht gereicht. Zwei Alben hat die Band bisher auf dem Domino-Label veröffentlicht, auf dem auch Franz Ferdinand zu Hause ist: im vergangenen Jahr das Debüt “Limbo, Panto” und in diesem Jahr “Two Dancers”.Doch die Songs darauf sind zu sperrig, zu verspielt und wohl auch ein wenig zu sophisticated für den Mainstream. Das aufmerksame Publikum im Hamburger Bunker-Club jedoch liebte die Wild Beasts. Es tanzte, es jubelte und hinterher stellten sich viele an den kleinen Merchandising-Stand, um eine CD oder ein T-Shirt als Erinnerung zu kaufen.  Einnahmen, die diese hoffnungsvolle Band sicher noch gut gebrauchen hat. Man wünscht ihnen und ihrer Plattenfirma einen langen Atem, um die Wild Beasts spätestens mit dem nächsten Album populär zu machen. Gut, dass bei Domino durch Franz Ferdinand immer noch eine Menge Geld in die Labelkassen fließt.


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Julius Winsome schießt zurück

winterinmaineEr lebt allein in einer Blockhütte in den Wäldern von Maine, zusammen mit seinem Hund  und 3282 Büchern. Seinen Lebensunterhalt verdient Julius Winsome als Gärtner und und als Schrauber in einer Autowerkstatt. Über soziale Kontakte verfügt er nicht mehr, seit Claire irgendwann nicht mehr in seine abgelegene Hütte gekommen ist. Die junge Frau tauchte eines Tages wie auf dem Nichts auf. Der gebildete Eremit und seine Privatbibliothek faszinierten sie. Claire war auch diejenige, die Winsome dazu überredete, sich den Pitbullterrier anzuschaffen, für den sie gemeinsam den Namen Hobbes nach dem englischen Philosophen aussuchten. Als sie nicht mehr auftaucht, bleibt Julius Winsome nur sein Hund. Hobbes ist für den Einzelgänger Winsome mehr  als nur ein Haustier. Er ist der einzige  Begleiter und treuer Freund. Als Hobbes an einem Oktobertag von einer Ladung Schrot  durchsiebt getötet wird, gerät  Julius Winsomes so ruhiges und friedliches Leben aus den Fugen. Er nimmt das von Großvater und Vater geerbte Gewehr, um  Rache zu nehmen. Sechs Männer, allesamt Jäger, werden sterben.

Die Story von Gerard Donovans Roman “Winter in Maine” ist eigentlich ungeheuerlich. Sechs Menschen müssen ihr Leben für das eines Hundes geben. Man kann sich die Schlagzeilen des Boulevards vorstellen, wenn diese fiktive Geschichte sich in der Realität ereignet hätte: “Wahnsinniger schlachtet Familienväter ab” oder “Der eiskalte Killer aus dem Wald”  würden Julius Winsome  vorverurteilen und zum Geisteskranken abstempeln. Aber sind nicht vielleicht die anderen die Mörder? All jene, die mit ihren teuren Geländewagen und ihren blankgeputzten Repetiergewehren in die Wildnis fahren, um ihrer Lust am Schießen und am Töten nachzugehen. Trophäensammler, die so lange rumballern, bis sie endlich einen Hirsch oder einen Schwarzbären erlegt haben. Julius Winsomes Wertesystem unterscheidet sich vom der Menschen, die in Dörfern und Städten wohnen. Er lebt mit der Natur, mit den Blumen, die im Sommer auf den Waldlichtungen erblühen, mit den Bäumen, die seiner Hütte Schutz geben und mit den Tieren, die er nicht fürchten muss, weil er ihre Eigenarten kennt. Diese Jäger dringen in seine Privatsphäre ein und bedrohen das Leben der Tiere in seiner Umgebung. Winsome ist eine archaische Figur, der im Wald nach ihren Gesetzen lebt und die sich verteidigt – eine Haltung, ähnlich der viele Amerikaner, die  im 18. und 19. Jahrhundert auf ihrem Weg nach Westen den nordamerikanischen Kontinent besiedelten.

Bevor Julius Winsome loszieht, um zurückzuschießen, hat er das Lee-Enfield-Gewehr Modell 14 aus dem Ersten Weltkrieg nur zweimal benutzt, um schwer verletzte Tiere von ihren Leiden zu befreien. Er ist das Gegenteil eines Killers. Obwohl er für den Tod von sechs Menschen verantwortlich wird, bekommt er die Sympathie des Lesers.  Als Ich-Erzähler lässt Winsome den Leser an seinen Gedanken  teilhaben, die sich manchmal zu Wahnvorstellungen auswachsen.  Julius Winsome ist ein mitfühlender Mensch, der sich für die Sprache Shakespeares begeistert, der stundenlang vor seinem Kaminfeuer sitzt und sich in Weltliteratur versenkt.  Er denkt oft an die Erzählungen seines Großvaters zurück, der die Marne-Schlacht im Ersten Weltkrieg überlebt hat und den im Traum die Männer verfolgen, die er als Soldat getötet hat. Winsome reflektiert Tod und das Töten. Das Gewehr macht ihm Angst. Doch der Tod seines Hundes wirft sein Leben aus der Bahn. “Ich war der Stock, der gegen die Welt geschwungen wurde…Ich war das Gewehr. Ich war die Kugel, das Ziel, das, was ein Wort bedeutet, wenn man es ernst nimmt. Genau das bedeutet Rache, selbst wenn’s geschrieben ist.”

Julius Winsomes Handlungen haben etwas Unausweichliches. Und sie sind ein Beispiel für die bedingungslose Liebe zu einer Kreatur. Hobbes steht  diesem gezwungenem Schützen genauso nah wie anderen Menschen der  Partner oder das Kind. Hier mordet jemand aus Liebe, der nichts mehr zu verlieren hat, weil er bereits alles verloren hat.

Gerard Donovan: Winter in Maine. 208 Seiten, Luchterhand Verlag, München. 2009


Der Autor: Gerard Donovan wurde 1959 in Wexford/Irland geboren. Er hat Gedichte, Shortstorys und drei Romane veröffentlicht. “Winter in Maine” (Originaltitel: “Julius Winsome”) erschien im Original  im Jahr 2006. Donovan  lebt heute in einer ehemaligen Bahnstation im US-Bundesstaat New York.

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Was für ein charmanter Mann!

Morrissey im Congress Centrum Hamburg

morrissey460Die Große Freiheit oder das Docks hätten  für Morrisseys jüngsten Auftritt auch gereicht, denn  nur etwa 1500 seiner Fans waren bereit, zwischen 50 und 70 Euro für eine Karte zu bezahlen. Diejenigen, die das Geld nicht abgeschreckt  hat, werden den teuren Konzertbesuch jedoch nicht bereut haben, denn der gereifte “mancunian boy” zeigte wieder einmal, was für ein Ausnahmesänger er ist.

Sein großes Thema ist auch an diesem Abend die Liebe.“You can kick me / you can punch me/ you can break my face/but you won’t change the way I feel/ cause I love you” singt er in der Smiths-Nummer “Is It Really So Strange?”. Liebe muss etwas aushalten können und liegt immer sehr nah beim Leid, das ist Morrisseys Botschaft. Egal, ob hetero- oder homosexuelle Liebe, der Schmerz bleibt gleich. Seine Fans sind treu und hängen diesem Grandseigneur des New Wave an den Lippen, seit er vor einem Vierteljahrhundert mit seiner Band The Smiths auftauchte und mit seinen Songs die 80er-Jahre prägte wie niemand sonst. Das ist im wenig charmanten CCH nicht anders.

Schon beim ersten Ton von “This Charming Man”, ebenfalls ein früher Smiths-Hit, springt das Publikum von den Sitzen, drängt sich vor die Bühne, um “Mozza” nahe zu sein und ihn am liebsten zu berühren. Der Abend bekommt Club-Atmosphäre, angesichts des Tempos und der Lautstärke der exquisiten Band hätte es sowieso niemand in den Sesseln gehalten. Er hantiert mit dem  Mikrofonkabel wie mit einem  Lasso, er ist permanent in Bewegung, er wirkt wie Getriebener, der  seine Gefühle herauslassen MUSS, sei es Trauer, der Schrei nach Errettung oder einfach Wut wie in “Irish Blood, English Heart”, einer bitterbösen Abrechnung mit seiner Heimat.  In den Himmel sehnt er sich nicht, “when I die I want to go to hell”, singt er in “One Day Goodbye Will Be Farewell”.

Morrissey ist ein wortgewaltiger Poet und Romantiker vom Schlage eines John Keats, dem er in “Cemetry Gates” huldigt; ein Bohemien mit französischer Eleganz und Lichtjahre entfernt von den rüpelhaften Hooligans seiner Heimat. Natürlich bricht er ein Konzert ab, wie vor einigen Tagen in Liverpool, als ihn ein Bierbecher am Kopf traf. Morrissey war nie ein Punk, seine Wildheit ist kontrolliert, aber es brodelt ihn ihm. Humor hat er übrigens auch. In einer seiner wenigen Ansagen, warnte er sein Publikum davor, vor der Halle gefälschte Poster zu kaufen, die ihn zusammen mit Cliff Richard zeigen. “Der ist schon 72, aber er sieht auf dem Plakat jünger aus als ich. Kauft das nicht!”

Seine enthusiastischen Anhänger hätten sich noch Dutzende weiterer Songs gewünscht, doch nach 85 Minuten mit 20 Liedern und “Something Is Squeezing My Skull” als einziger Zugabe ist Schluss. Doch keine Pfiffe, kein Murren. Als das Saallicht aufleuchtet, trottet die Menge zum Ausgang. Zufrieden, erfüllt und beseelt.

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Solo über einen toten König

Sven-Eric Bechtolf als “Richard II.”  am Thalia Theater

Richard004Das Ende steht am Anfang. König Richard II. ist tot. Blut fließt aus seinem Mund. In den Sekunden vor seinem gewaltsamen Ableben im Kerker von Pomfret zieht sein Leben noch einmal an ihm vorbei. Nicht chronologisch und höchst subjektiv. Denn die junge Regisseurin  Cornelia Rainer und ihr Protagonist Sven-Eric Bechtolf haben Shakespeares figurenreiches Königsdrama auf die Titelfigur reduziert. Dieses Solo  über einen toten König wurde im Thalia Theater zur triumphalen Rückkehr eines Schauspielers, der hier in derÄra Flimm bis zum Jahr 1999 große Erfolge gefeiert hatte. Man muss schon ein Könner wie Bechtolf sein, um diesen Part zu bewältigen, denn im Laufe der 90 Minuten muss er auch in die Rollen seines Gegenspielers Bolingbroke, des späteren Königs Heinrich IV., dessen Vater Johanns von Gaunt und weiterer Höflinge schlüpfen.

Richard II. ist bei Shakespeare  ein Bankrotteur und Schöngeist, einer der sich mit falschen Ratgebern umgibt und das Geld seiner Untertanen mit beiden Händen zum Fenster hinaus wirft. Kein Intrigant, sondern ein Wesen, das als unantastbarer, von Gott gesegneter Herrscher auf dem Thron sitzt. Bechtolf verleiht ihm die Züge eines selbstgefälligen Regenten. Er berauscht sich an seiner Macht,  tänzelt faunisch über die Bühne, küsst dutzendfach nach ihm ausgestreckte Hände und zieht aus dem Boden eine lange blaue Samtrobe hervor, prachtvolle Insignie seines Königtums. Er setzt sich auf seinen Thron, schwadroniert herum, und gefällt sich in dieser Rolle, die in dem Ausruf  “Lang lebe Richard!” gipfelt. Dieser König hat etwas von einem Borderliner, der nicht erkennt, was um ihn herum geschieht, der als Herrscher eine falsche Entscheidung nach der anderen trifft und deshalb von seinem Wiedersacher Bolingbroke, “einem Mann des Volkes”,  entmachtet wird.

Cornelia Rainer Inszenierung zeigt den tiefen Fall eines Mächtigen, der nicht versteht, warum seine Vormachtstellung endet. Der von sich sagt: “Ich bin die Sonne.” Richards Reaktionen ähneln denen von Politikern, die aus dem Amt gejagt werden, und  Wirtschaftsbossen, die Knall auf Fall ihre Schreibtische räumen müssen, weil sie Milliarden versenkt oder Millionen in die eigene Tasche gewirtschaft haben. Dieser Fall bedeutet den Verlust des Rangs und des Namens.   “Wie soll ich mich nennen?”, fragt Richard, nachdem Bolingbroke sich die Königskrone aufs Haupt gesetzt hat. Die Reduktion der Persönlichkeit ist total.

Diese von Cornelia Rainer und der Dramaturgin Susanne Meister erarbeitete Textfassung streift nur am Rande die Intrigen und Ränke an Richards Hof. Shakespeares Drama in seiner ursprünglichen Form würde sich als Vorlage für eine sehr viel politischere Inszenierung  eignen, denn diese Lügen und gegenseitigen Beschuldigungen um des eigenen Vorteils willen sind von brennender Aktualität. Doch auch die Konzentration auf den König und seinen Umgang mit der Realität trägt  moderne Züge und ist weit mehr als reines Schauspielertheater. Jedoch empfiehlt es sich, vor dem Besuch einer der nächsten Aufführungen  Shakespeares Text oder eine genaue Inhaltsangabe zu lesen. Das erleichtert das Verstehen und macht diesen Abend dann noch viel mehr zu einem großartigen Theatererlebnis.

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Coole Jungs aus Versailles

Phoenix im ausverkauften Docks, Hamburg

Phoenix - D-ClubSie haben die Rockmusik nicht neu erfunden, doch sie machen alles richtig. Deshalb sind Phoenix derzeit die coolste europäische Band (das U.K. nehmen wir da mal aus) und die Lieblinge hipper (männlich) und schöner (weiblich)  Thirtysomethings. Ihre Songs sind gerader New-Wave-Gitarrenpop mit dieser typisch französischen Nonchalance. Ihr Sänger Thomas Mars ist ein gutaussehender Frontmann ohne Allüren und ohne Berührungsängste. Im Zugabenteil der Hamburger Docks-Show steht er plötzlich auf einer der beiden Theken und bedankt sich für die euphorischen Reaktionen des Publikums. In der Anfangsphase der Band saß Mars noch hinterm Schlagzeug, doch weil niemand von seinen Kumpels singen konnte, musste er ans Mikro. Seitdem verpflichten Phoenix Gasttrommler. In Hamburg hatten sie den Schweden Thomas Hedlund dabei. Hedlund bearbeitet Trommeln und Becken als hätte er früher in den Wäldern Mittelschwedens Bäume gefällt – und zwar nicht mit der Kettensäge, sondern mit der Axt. Sein knallharter Stil bereichert den Sound von Phoenix und gibt ihm zusätzliche Wucht, besonders schön bei einem Song wie “Run Run Run” zu hören.

Das aktuelle Album der Band aus Versailles heißt “Wolfgang Amadeus Phoenix”, ihr Konzert beginnt die Band mit “Lisztomania”. Die Franzosen verehren diese großen klassischen Komponisten, doch ein Klassik-Rock-Crossover ersparen sie ihren Fans. Wäre auch nicht cool. An Liszt bewundern sie, dass seine Konzerte im 19. Jahrhundert regelmäßig außer Kontrolle gerieten, was bei Phoenix jedoch nicht passiert. Dafür ist ihr Publikum wiederum zu cool. Einen Ausflug in experimentellere Gefilde erlauben sie sich beim ersten Teil von “Love Like A Sunset”, da hat Thomas Mars Pause und die fünf Instrumentalisten ergehen sich in das  minimalistische Ausloten einzelner Töne. Was die Hörgewohnheiten einiger weiblicher Anhänger doch überfordert, die sich angesichts der Klangfrickeleien  lieber über die Vorzüge von Prada-Handtaschen aus lassen. Doch als Thomas Mars im zweiten Teil des Songs wieder auf der Bühne erscheint, ist die Aufmerksamkeitsschwelle wieder deutlich erhöht.  Als er im Zugabenteil “Everything Is Everything”, den größten Hit der Band,  allein  mit Gitarrist Laurent Brancowitz  als Ballade interpretiert, ist ihm ein Platz in den Träumen seiner weiblichen Anhängerschaft gewiss. Und all diejenigen, die beim letzten Song mit den Musikern  auf der Bühne tanzen durften, werden davon sicher noch im kommenden Jahr schwärmen. Das hatte allerdings etwa von Kinderparty. Und war nicht ganz so cool.

Photos: ©Stefan Malzkorn/Hamburg

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Was für ein Desaster!

Roland Emmerichs neuester Katastrophenfilm “2012″

Eigentlich wollte Roland Emmerich nach “Independance Day” und “The Day After” keine Katastrophenfilme mehr drehen. Aber als dann ein Studio mit 200 Millionen Dollar um die Ecke kam, konnte der aus Schwaben stammende Hollywood-Regisseur nicht nein sagen. Zumal es diesmal um den größten Katastrophenfilm aller Zeiten gehen sollte. Nicht nur ein Erdbeben, das Kalifornien in den San-Andreas-Graben rutschen lässt, oder ein Alien-Angriff, der Washington D.C. pulverisiert, nein, diesmal sollte kein Stein mehr auf dem anderen bleiben.

“2012″ basiert auf einem alten Maya-Mythos, nachdem die Erde am 21. Dezember 2012 untergeht. Ein paar Wissenschaftler haben herausgefunden, dass die Erdkruste bröckelt und die Erde in einer gigantischen Sintflut untergehen wird. Aufzuhalten ist die Apokalypse nicht, aber nach biblischem Vorbild versuchen die Mächtigen der Welt, ein paar Archen zu bauen, um wenigstens ein paar hunderttausend Exemplare der Spezies Mensch zu retten.

Um die Katastrophe auf eine private Ebene herunterzubrechen, wird der erfolglose Schrifsteller Jackson Curtis (John Cusack) eingeführt, der Wind von den geheimen Regierungsplänen bekommt. Als die Erde zu Beben beginnt und zu einem alles verschlingenden Krater wird, bahnt er  sich zusammen mit seiner Frau und seinen Kindern in verschiedenen Vehikeln einen Weg bis zu den Archen. Die warten mitten in China auf ihre illustren  Reisenden.

“2012″ will nicht die Geschichte von Menschen in einer Ausnahmesituation erzählen, Emmerich ging es vor allem darum, seinen virtuosen Umgang mit den special effects zu demonstrieren. Sein Film wirkt wie ein Videospiel, bei dem man mit voller Konzentration und atemberaubendem Tempo ein Auto oder ein Flugzeug um aufreißende Erdspalten und zusammenstürzende Wolkenkratzer bugsieren muss. Kommt man durch, gibt’s am Ende  ein paar Arche-Punkte.  Wenn man doch von einer zusammenkrachenden Autobahnbrücke erwischt wird, einfach den Reset-Knopf drücken und noch mal von vorn hinein in die Vulkanausbrüche und himalayahohen Tsunamis.

In einem Interview sagte Emmerich, da die “visual effcts” heute so viel einfacher zu beherrschen sein, habe man mehr Zeit für die Schauspieler. Davon ist leider nichts zu merken, denn die Dialoge sind hölzern und oft unfreiwillig komisch. Nebenfiguren wie der dicke russische Milliardär mit seinem blonden Liebchen und den fetten Kindern entspringen üblen Klischees, der amerikanische Präsident (Danny Glover) ist natürlich Afro-Amerikaner und wirkt wie ein altersweiser Barack Obama. Wie ein guter Kapitän verlässt er das sinkende Schiff nicht und harrt im Weißen Haus aus, bis das von  einen Flugzeugträger der US-Marine platt gemacht wird.

Die anderen Staatsmänner gehen derweil an Bord der Archen: die Queen, die deutsche Kanzlerin, der russische Präsident und andere wichtige Repräsentanten. Vermutlich auch Guido Westerwelle.

2012 USA 2009, 150 Min., R: Roland Emmerich; D: John Cusack, Amanda Peet, Woody Harrelson, Thandie Newton, Danny Glover, Chiwetel Ejiofor

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Schubladen-Verweigerer

Grizzly Bears Tourauftakt im Hamburger Grünspan

Am Anfang ein Jazz-Groove. Lässig, entspannt. Doch das ist nur eine klitzekleine Facette im Klangkosmos von Grizzly Bear. Schnell ändern sich die Atmosphären der Kompositionen und mäandern in völlig andere Richtungen. Elemente von Folkmusik tauchen auf, E-Gitarren machen den Sound plötzlich laut, verschwinden wieder und machen Platz für hellen mehrstimmigen Harmoniegesang. Das New Yorker Quartett um den Sänger Edward Droste, der Grizzly Bear 1999 als Soloprojekt startete, entzieht sich jeglichen Schubladen. Zu sperrig und zu verschieden sind die einzelnen Songs, wobei der Begriff bereits in die Irre führt. Die typische Folge von Strophe und Refrain gibt es bei Grizzly Bear nicht. Jede Nummer fängt an und bewegt sich auf verschlungenen Wegen auf ein Ende hin, das niemals den Anfang wieder aufgreift. Wiedererkennbare Riffs gehören ebenfalls nicht zum Werkzeug der vier Musiker aus New York, die in Williamsburg, einem hippen Viertel von Brooklyn leben und arbeiten.

Als ihr drittes Album “Veckatimest” in diesem Frühjahr erschien, gab es kaum eine renommierte Zeitung, die das Werk nicht über den grünen Klee lobte. Insofern ist es kein Wunder, das das Hamburger Grünspan fast ausverkauft ist, obwohl mit Placebo und den Virgins zwei weitere angesagte Bands an diesem Abend in der Hansestadt spielen. Aber Grizzly Bear stehen zum ersten Mal auf einer Hamburger Bühne, insofern ist das Interesse groß. Gebannt und konzentriert folgen die Zuhörer den New Yorkern. Der Überraschungseffekt ist eine der Stärken dieser spröden Band, die sich fernab des Mainstreams positioniert hat. Grizzly Bear schichtet verschiedene Sounds übereinander, aus denen bizarre Gebilde entstehen, aber diese Gebirge sind weniger ein kompaktes Massiv als eine  Ansammlung von steil abfallenden Graten. Die Musiker sind Meister der Nuancierung, selbst wenn die Lautstärke zunimmt und Ansätze von Rockmusik zu erkennen sind. Aber eindeutige Zitate sind ebenfalls nicht die Sache von Ed Droste, Daniel Drossen, Chris Taylor und Christopher Bear. Ganz bewusst entziehen sie sich einer Eindeutigkeit, um sich genremäßig nicht verorten zu lassen.

Nicht nur die Kompositionen dieser grandiosen Band sind ungewöhnlich, auch beim Bühnendesign hat sie sich etwas einfallen lassen. Außer den üblichen Spotlights illuminieren 35 gläserne Laternen die Bühne und schaffen eine warme, fast gemütliche Atmosphäre. Obwohl sicher nicht beabsichtigt, mutet das gelbe Licht  vorweihnachtlich an.

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Grenzenlose Freiheit im Saal Baltic

Rolling Stone Weekender am Weißenhäuser Strand

Rolling Stone WeekenderVon außen versprüht die Ferienanlage Weißenhäuser Strand den Charme einer Plattenbausiedlung. Die Restaurants in dem Ferienzentrum an der Hohwachter Bucht heißen “Witthüs”, “Deichgraf” und “Fischkiste”, das Ambiente mit seinen falschen griechischen Säulen und den ebenso gefaketen Geranienbalkonen sind Ausdruck von Spießigkeit und stilistischem Frevel gleichermaßen.  Doch wenn eine erstklassige Band auf der Bühne steht, ist es egal, wie sehr das verschnörkelte Teppichmuster im Saal Baltic die Augen beleidigt. Der Ort des ersten Rolling Stone Weekenders ist  zwar nicht so cool wie das Hamburger Molotow oder die New Yorker Mercury Lounge, aber das Programm der zwei Tage hat es in sich.

Zielgruppe des Weekenders sind Familien mit Kindern und Männer der Altersklasse Ü40, die mit ihren Kumpels mal wieder ein richtiges Rock ‘n’Roll-Wochenende erleben wollen. Mit viel Bier und viel Gitarrenmusik also, aber ohne Zeltübernachtung und Dixi-Klos. Doch wer  geglaubt hätte, das Programm würde vor allem eine Reihe von mehr oder weniger abgehalfterten Retro-Rockbands präsentieren, sieht sich angenehm überrascht. Als Zugpferde stehen Namen auf dem Programm, die auch beim jungen Rockpublikum großen Respekt genießen wie die Editors, die Flaming Lips und Wilco. Und es gibt bei diesem Alt-Männer-Festival sogar einiges zu entdecken, was vom musikalischen Mainstream Lichtjahre  entfernt liegt wie die US-Combos Akron/Family oder Cymbals Eat Guitars.

Hinter Akron/Family, im New Yorker Stadtteil Brooklyn zu Hause, verbergen sich drei junge bärtige Krachmacher, die aussehen, als seien sie mit einer Zeitmaschine aus dem Jahr 1969 in die Gegenwart gereist. Gitarrist Seth Olinsky wirkt mit seinen langen Haaren und dem Stirnband wie ein Hippie auf dem Weg nach Woodstock. Doch Akron/Family sind eben keine Nostalgiker, die dem  “Make Love Not War”-Credo nachhängen, sondern drei geradezu analytische Musiker, deren Reise in der Jetzt-Zeit beginnt und die   sich zurücksehnen in die Aufbruchsstimmung der späten Sechziger Jahre. Damals war Rockmusik noch nicht durchformatiert, Bands besaßen damals  eine fast grenzenlose Freiheit in ihren musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten, und das Publikum folgte ihnen mit offenen Ohren. Akron/Family nehmen sich wieder diese Freiheit und spielen Stücke von annähernd 30 Minuten Länge. Rockimprovisationen gehen über in eine Art indianischen Gesang, auf die Trance folgen Rückkoppelungen, elektronische Geräusche und ein Rap von Schlagzeuger Dana Janssen, bis dieses gewaltige Klanggebirge mit ein paar  Schellentönen zart verklingt. Akron/Family sind mit ihrem experimentellen Rock ein aktueller Gegenentwurf zu all den durchgestylten Rockbands. Ihre Musik ist politisch, weil sie  diese engen Genre-Bandagen zugunsten einer  stilistischen Freiheit löst, in der alles möglich und erlaubt ist.

Eine andere Art von politischer Rockkultur erleben die 2500 Zuschauer mit Billy Bragg im großen  Vier-Mast-Zelt. Der britische Sänger ist, seit er seine Karriere in den späten 70er-Jahren begann, ein Troubadour der Arbeiterklasse. Er prangert die englische Monarchie genauso an wie er die Banken und den Kapitalismus als Alleinschuldige für die Weltwirtschaftskrise ausgemacht hat. Doch Bragg ist kein politischer Eiferer, er verpackt seine Botschaften in schlichte Folksongs und witzige Moderationen, die oftmals doppelt so lang sind wie seine Songs. Dabei kommt er zuweilen vom Hundertsten ins Tausendste wie bei der Ankündigung eines Woody-Guthrie-Liedes: Dessen Hommage an die Schauspielerin Ingrid Bergman wird bei Bragg zu einer verbalen Kette, die   von   Roberto Rossellinis nach einer Vulkaninsel  “Stromboli” genannten Film über Isabella Rossellini und David Lynch zurück zu Woody Guthries  Geschlechtsteil führt, das sich so hart anfühlt wie Vulkanstein.

Als Wilco den Rolling Stone Weekender am späten Sonnabend beschließen, kehrt Bragg noch einmal auf die Bühne zurück, denn zusammen mit Wilco-Frontmann Jeff Tweedy hat  er Songs aus dem Nachlass des berühmten US-Folksängers  Woody Guthrie vertont. Bragg gehört sozusagen zur erweiterten Wilco-Familie. Das Kollektiv aus Chicago spielt ein frenetisch gefeiertes Konzert. Mit teilweise drei Gitarren erzeugen Tweedy und seine Kumpane einen  Klangwall, so wuchtig wie eine alles mitreißende Monsterwelle. Neben dem Kanadier Neil Young ist Tweedy inzwischen der bedeutendste Rockmusiker Nordamerikas.

Von den insgesamt 23 Solisten und Bands, die an diesem Wochenende an der Ostsee auftraten, muss außer den soliden Editors und der bunten Konfetti-Show der Flaming Lips (Foto: Stefan Malzkorn) der US-Sänger Brendan Benson besonders positiv erwähnt werden. Eigentlich hatte der Sänger von Jack Whites Nebenprojekt Raconteurs damit gerechnet, auch auf der großen Zeltbühne aufzutreten. Stattdessen findet er sich im etwa 200 Zuhörer fassenden “Witthüs” wieder. Vielleicht bekommt ihm die clubähnliche Enge gut, denn Benson liefert ein paar ruppige Versionen seiner Songs aus dem im Sommer erschienenen Album “My Old, Familiar Friend” ab. Auf Platte klingen diese Songs wie reiner Gitarren-Pop, live kommen die Nummern um einige Grade härter rüber. Auch Benson gehört zu den angenehmen Überraschungen des Wochenendes.

Überhaupt sieht man am Sonntagmorgen nur zufriedene Gesichter. Die Wege zwischen den insgesamt vier Bühnen waren kurz, das Programm von hoher Qualität, die Organisation reibungslos, die Atmosphäre entspannt. Das eingangs beschriebene Ambiente des Ferienzentrums spielte keine Rolle. Könnte sein, dass  der Rolling Stone Weekender bald ein festen Platz im internationalen Festivalkalender einnimmt. Im kommenden November geht er in die nächste Runde.

Photos: ©Stefan Malzkorn/Hamburg

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